Weinen und Lachen, Regen und Nebel und keine Lust auf Schlechtwetterprogramm


11. Tag: Donnerstag, 21. Dezember

Strecke: Berlin – Wien

Abschied von Berlin, das Herz weint, die Leber lacht. Der Soundtrack der Anreise ist nicht mehr mit an Bord, „Hirsch Fisch“ haben es vorgezogen in Berlin zu verweilen. Der Soundtrack für die Rückreise hört auf den Namen „Iron Henning“, richtig der von gestern Abend. Iron Henning, eine Mischung aus Kurt Cobain und Roy Black, aber natürlich ein Original-Ostler! Die Wiederholungstaste wird mehrfach gedrückt – „Such mich wo die Blumen steh’n, da kannst du meinen Namen in den Stein gemeißelt seh’n!“. “Lieder Of The Pack“ aus 1996, Hits only!
Eigentlich sollte/wollte ich nach Dresden noch einmal abbiegen und mein Haus/Bett in der sächsischen Schweiz aufstellen. Dauerregen, Nebelsuppe und Rockin‘ Henning im Ohr. Die Aussicht auf ein Schlechtwetterprogramm in irgendeiner sächsischen Kneipe ließen den Fuß am Gaspedal verweilen. Ausfahrt Pirna verpasst – Vorwärts! – Prag, Znojmo, Wien. Elf Schlechtwettertage am Stück gehen zu Ende, trotzdem, es war traumhaft!

1.000 Dank an alle Gastgeber_innen, Freund_innen, Interviewpartner_innen und Blogleser_innen!

Früh ins Bett, verspäteter Tagesbeginn und der Highway nach Hellersdorf


10. Tag: Mittwoch, 20. Dezember

Berlin

Das Theaterstück war großartig und musste ausführlich nachbesprochen werden … und immer diese, noch offenen Lokale am Heimweg!
Der heutige Tag startet etwas verspätet. Vorwärts Öffis! Die Berliner Verkehrsbetriebe haben immer flotte Sprüche parat: „i’m on the HIGHWAY TO HELLersdorf!“ Gesagt, getan. Straßenbahn M6, Start Alexanderplatz, Endstation Hellersdorf/Riesaer Straße. In der „Hellersdorfer Perle“ werden bei einem Berliner Pils die Gedanken geordnet: Ab dem Eintritt in den Stadtbezirk Lichtenberg nimmt der Coolness-Faktor mit jeder gefahrenen Station rapide ab, drinnen in der Tram, sowie draußen auf der Straße. Ab Marzahn reiht sich (Platten-) Schlafburg an (Platten-) Schlafburg, dazwischen vereinzelte Shopping-Monster. Der Sprachwitz – Hell auf Hellersdorf – funktioniert. Die hippe Mauer-Hauptstadt ist in weite Ferne gerückt. Hier kann man nicht wohnen wollen. Liebe Straßenbahn, einmal retour – bitte!
In einer Kneipe im Prenzlauer Berg wartet inzwischen der Musiker, Entertainer, DJ und Weltreisende Iron Henning. Ein letztes Interview, ein letztes Abendprogramm, eine letzte Nacht im gemachten Bett, morgen warten wieder Zelt und Schlafsack.

Berliner Humor, RAW Power und vom „anderen“ Ostrock zu „anderer“ Theaterarbeit


9. Tag: Dienstag, 19. Dezember

Berlin

Berliner Schmäh funktioniert wie folgt: „Kennst du den? Fliegen ein Schwabe, ein Hesse, ein Rheinländer nach Berlin. Und dann? Fliegen sie wieder zurück!“ Alles klar?
Heute wird zum ersten Mal das Brompton entfaltet. Vernünftige Menschen würden das bei der vorliegenden Wetterlage vermeiden. Trotzdem. Am Plan steht das RAW-Gelände zwischen der Warschauer Straße und dem Warschauer Bahnhof. Raw steht für Reichsbahnausbesserungswerk. Eine alternative Stadt in der Stadt: Bars, Veranstaltungshallen, ein Skatepark, ein Kletterpunker, … Ein kleines anarchisch anmutendes Freigelände unnah der Spree. Untertags ist nicht viel los, nur einige versprengte Touristen zücken ihre Kameras. Heute mach ich zum ersten Mal rüber, über die Oberbaumbrücke rüber nach Kreuzberg, Westberlin. Ein Stück den Mauerradweg entlang. Friedrichstraße, Checkpoint Charlie, Potsdamer Platz, Mitte, das ehemalige Tacheles, Bernauer Straße, … Ganz Berlin ist eine einzige, große Baustelle. Die Stadt lässt sich dabei zusehen wie der Kommerz sie aufsaugt. Alles wird vermarktet, heute hip morgen tot.
Am Nachmittag wartet Freund und DDR-Punk-Zeitzeuge Ronald Galenza um die Glanzzeiten des „anderen“ Ostrocks noch einmal aufzuwärmen. Herr Galenza, ein großer Erzähler!
Für den Abend steht Kulturprogramm auf den Zettel. Hochkultur. Theater Ramba Zamba spielt „Der gute Mensch von Downtown“ mit Eva Mattes und ganz besonderen („Menschen mit einer anderen geistigen Ordnung“) Schauspieler_innen.

Österreichischer Wahnsinn, Schloss statt Palast und auf ein Gespräch mit dem Rammstein Flake Lorenz


 

8. Tag: Montag, 18. Dezember

Berlin

Heute ist kein guter Tag, in Österreich wird gerade eine Regierung angelobt, die sich kein klar denkender Mensch gewünscht haben kann. Weiters, die Liebste steigt heute in den großen Flugvogel zurück nach Wien. Einziger Lichtblick, das seit Tagen vermisste und heute zurückgekehrte Sonnenlicht!
Abgesehen davon bin ich aufgeregt, heute darf ich eine Ost-Berliner Legende, den Rammstein Keyboarder (auf ostdeutsch „Tastenficker“) Christan „Flake“ Lorenz zu den Themen Punk in der DDR, Feeling B, Rammstein, Wende, Einheit, Trallala, … ausfragen. Um den Kopf frei zu bekommen, streune ich heute durch die Bezirke Prenzlauer Berg und Mitte. Klingende Straßennamen auf Schritt und Tritt: Danziger Straße. Schönhauser Allee. Die zur Touri-Falle verkommene Curry-Wurst-Bude Konopke. Der Laufsteg Ostberlins, die Kastanienallee. Der Rosa-Luxemburg-Platz. Die Revanche-Foul-Bausünde Berliner Schloss, dort wo einst der Palast der Republik thronte. Eine ideologische Kurzvisite bei den Vordenkern Marx und Engels. Der Fernsehturm am Alexanderplatz. Weihnachtsmärkte werden dabei großräumig umgangen, nicht aus Angst vor Attentaten, vielmehr aus Angst vor dem Jingle-Punsch-Wahnsinns-Virus.
Zurück im ehemaligen Künstler-Viertel Prenzlauer Berg. Flake Lorenz, „Tastenficker“ der Böse-Buben-Band Rammstein, hat kürzlich sein neuestes Buch veröffentlicht. „Heute hat die Welt Geburtstag“ (Verlag S. Fischer) ist eine lustige „Klassenfahrt“ aus Erinnerungen, Gedanken und Anekdoten durch die Brille des Spaßvogels der Metal-Kapelle. Das Gespräch schweifte aus, der liebenswerte Ostler erzählte von guten alten Zeiten, von gewinnorientierten Westlern und einer Stadt im Wandel. Danke Flake! Mehr darüber gibt es demnächst in der wunderbaren Wiener Straßenzeitung AUGUSTIN zu lesen.

Deutsch-Österreichisches-Mannschaftskochen in Prenzlauer Berg


7. Tag: Sonntag, 17. Dezember

Berlin

Es wurde ein langer Zocker-Abend! Ganz oldschool das Spielgerät, das klassische «Französische Blatt». Ansagen! Stiche vorher ankündigen und auch machen, nicht mehr und nicht weniger als angesagt. Die Anfangserfolge der Ösi-Player_in hielten nicht lange an und so hatten zu guter Letzt die Ossis die Nase vorne. Trotzdem, der Spieltisch wurde in den frühen Morgenstunden mit erhobenem Haupt und vollem Bauch – Rinderrouladen mit Rotkraut und Klößen – verlassen. Die Nacht-Tram, gefüllt mit Partyopfern brachte uns gesund und sicher nach Hause.
Neuer Tag, neues Glück. Heute steht der gemischte Mannschaftsbewerb in der Disziplin Kochen am Spielplan. Unser Handicap: Rindsuppe mit Frittaten (in Streifen geschnittener Eierkuchen) und Faschierter (Hack-)Braten mit Erdäpfelpüree. Der Sieger steht bereits fest – die Deutsch-Österreichische Freundschaft!

Täglich grüßt Freund Ernst, die Kiez-Tour und der kochende Schriftsteller


 

6. Tag: Samstag, 16. Dezember

Berlin

This Boots Are Made For Walking – eine Kiez-Tour auf Schusters Rappen: Die Greifswalder hinunter, wie jeden Tag grüßt Freund Ernst (Thälmann). Markttag am Kollwitzplatz für das morgige Festmenü: Berlin-Wiener-Crossküche, am Speiseplan stehen Frittatensuppe und Hackbraten.
Wir verlassen Prenzlauer Berg und tauchen ein in Friedrichshain. Sozialistischer Klassizismus, die Karl-Marx-Allee, das Techno-Mekka Berghain von außen, die Warschauer Straße und das pulsierende Friedrichshain rund um den Boxhagener Platz. Hipster-Chic und Punk-Style wohnen Tür an Tür. Eine linkssentimentale Pizzeria lässt uns wieder zu Kräften kommen. Querfeldein auf verschlungen Umwegen treten wir den Heimweg an und landen am Zahnfleisch wieder in Prenzlauer Berg. Heute werden wir von unserem kochenden Schriftstellerfreund Detlef kulinarisch verwöhnt.

Vorwärts Berlin, Wiedersehen mit Freund Ernst und ein erstes Erfrischungsgetränk in der Lieblingskneipe


5. Tag: Freitag, 15. Dezember

Strecke: Neustadt/Harz – Berlin

Letzte Nacht hat es nicht geregnet, es hat geschneit. Aber inzwischen macht sich Routine breit, es war eine wunderbar kuschelige Zelt-Nacht.
Harz baba, auf nach Berlin! Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn im entspannten Einheits-km/h-Bereich macht irgendwie traurig, schön traurig. Hirsch Fisch haben den perfekten Soundtrack dazu: «I geh obi an di Donau, bind ma an Stan uman Hols, hupf ins koite Wossa, im Winta is koit!» Irgendwann ist es mit dem melancholischen Dahingleiten vorbei. Der viele Verkehr, die endlosen Baustellen und 100 Kilometer vorm Ziel ist ganz Schluss mit Lustig! Ein Unfall direkt vor meiner Schnauze. Zum Glück nur kaputtes Blech. Rund um Berlin wird eifrig gebaut, im Schritttempo nähert sich die Stadtgrenze. Geschafft, die Einfahrt ist wie nach Hause kommen, Köpenik, Treptow, Friedrichshain, Prenzlauer Berg. Auf der Greifswalder Straße grüßt Freund Ernst (Thälmann) den sozialistischen Gruß, ich grüße freudig zurück. Die Liebste ist bereits angekommen. Unser Bett steht für die nächsten Tage in Prenzlauer Berg, dort wo sich keine Tourist_innen hinverirren. In meinem Lieblings-Tschocherl, pardon, meiner Lieblings-Raucher-Kneipe gibt es zur Belohnung ein Berliner Pilsner. Der Mützenträger am Nachbartisch hält seinem Gegenüber einen Muschi-Vortrag, Einzelheiten würden zu weit führen. Zeit zu gehen, unsere Berliner Freund_innen warten!

Eine nasskalte Nacht, die Dörfer-Tour und klopf auf Holz!


4. Tag: Donnerstag, 14. Dezember

Strecke: Neustadt/Harz – Teistungen – Böseckendorf – Duderstadt – Ecklingerode – Brehme – Neustadt/Harz

Die ganze Nacht trommelt der Regen auf die Zelthaut, in der Früh wird der Regen zu Schnee. Das Zelt ist waschelnass – außen – im Inneren regiert die trockene Kälte. Der Gaskocher wird im Beifahrer-Fußraum des ebenfalls gut gekühlten Kleinwagens angeworfen – Kaffee only – Hauptsache was Warmes. Beim Frühstück im gut aufgeheizten Campingplatz-Imbiss erzählt die Wirtin die Vertreibungsgeschichte ihrer Familie. 1947 von Wolin (Polen) nach Deutschland, in Thüringen war Endstation. An ihre Heimat hat sie keine Erinnerung mehr, sie war damals gerade erst geboren. Ihre Geburtsstadt durfte sie erst nach der Wende wiedersehen. An die DDR-Zeiten denkt die rüstige Senior-Chefin ohne Groll: «Es gab auch viel Gutes, nur heute im wiedervereinigten Land sind wir Ostler Deutsche zweiter Klasse.»
Heute wird ein Reise-Stopp-Tag eingelegt und die nähere Umgebung abgefahren. Entlang des «Grünen Bandes», die Dörfer-Tour: Böseckendorf, wo am 2. Oktober 1961 knapp die Hälfte der Dorfeinwohner in den Westen geflohen sind. Teistungen und sein Grenzlandmuseum. Eklingerode. Brehme, von wo aus Siegfried Rothensee (siehe gestrigen Blog-Eintrag) im weißen Hemd durchs Moor die Seiten gewechselt hat. Viele Hügel, viele Felder, viel Landschaft. In den Dörfern gibt es maximal einen Bäcker, aber keine Gaststuben für Fest- und/oder Flüssignahrung. Eine Skurrilität am Rande: Eine Ortschaft mit nix und zwei Friseuren! Die letzte Station vor meiner Zeltstadt ist die Kleinstadt Nordhausen. Fachwerkhäuser treffen auf Baustellen und Baulücken, alles sehr zerrissen.
Klopf auf Holz – mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte, eine äußerst sympathische Angewohnheit in ostdeutschen Gaststätten, zur Begrüßung oder Verabschiedung. Und schon wieder ist das Licht aus, was folgt ist die Suche nach Nahrung und der darauffolgende Rückzug in den Schlafsack. Morgen wartet Berlin, die «Haberer_innen» Ronald und Ursula sowie ein frisch gemachtes Bett.

Graue Theorie, Abfahrt Lederhose und eine Republiksflucht


3. Tag: Mittwoch, 13. Dezember

Strecke: Gössitz – Teistungen – Neustadt/Harz

Vorstellung und Wirklichkeit sind nicht miteinander verwandt! Die Realität der letzten Nacht: 18 Uhr, Camping-Wirtshaus sperrt zu. 18.30 Uhr, eingraben in den Schlafsack. 22 Uhr, erstes Mal ausgeschlafen. 02 Uhr, zweites Mal ausgeschlafen. 03 Uhr, raus in die Kälte, pinkeln bei Temperaturen unter Null. 06 Uhr, endgültig wach. Morgentoilette. Die Zähne klappern. 07 Uhr, mit dem Gaskocher Kaffee kochen.
Heute keine Experimente, keine verführerischen Landstraßen, nur kurz durch das zart verschneite Thüringer Vogtland, dann ganz pragmatisch rauf auf die Autobahn. Mit «Hirsch Fisch» kommt die gute Laune zurück – «In da Toschn, drinn is a Foto, do is ana drauf der freindlich locht». Auch die Autobahn-Abfahrt «Lederhose» sorgt für Heiterkeit. In Teistungen bei Duderstadt, direkt an der ehemaligen Deutsch-Deutschen-Grenze, wartet Siegfried Rothensee um von seiner Republiksflucht aus der DDR zu erzählen. Inzwischen sind 53 Jahre vergangen, beim Erzählen kämpft Siegfried Rothensee noch immer mit der Geschichte. Sein Bruder ging für einen gescheiterten Fluchtversuch mehrere Jahre in den Knast. So viel Zeitgeschichte braucht seine Zeit, die Sonne hat sich längst verabschiedet, Schneeregen begleitet mich zur heutigen Schlafstation. Mein mobiles Haus steht in Neustadt/Harz. Autoscheinwerferlicht hilft beim Aufbau. Es schneit. Jetzt noch eine echte Thüringer Bratwurst und ab in den Schlafsack.

Unter Null, Verzögerung der Zeit und ein Zeltplatz an der Saale


2. Tag: Dienstag, 12. Dezember

Strecke: Budweis (CZ) – Pilzen – Chep – Plauen (D) – Gössitz

Hanka, Honza – danke, baba! Rauf auf die Bundesstraße, der Fuß am Gasregler – Einheits-Wohlfühlig-Geschwindigkeit auf allen Wegen – der Kopf im Himmel. Písek, Pilsen, kurz vor Karlsbad geht es über die Berge. Das Thermometer unterschreitet zum ersten Mal die Null-Grad-Marke und die ursprüngliche Vorfreude auf die kommende, erste Zeltnacht (Training für die Finnland-Rad-Reise im nächsten Jahr) schwindet. Unterdessen tönen die wunderbaren Reisebegleiter «Hirsch Fisch» noch immer aus dem Abspielgerät: «Steig ma unsam Hund aufn Schwaf, schreit der Hou Hou!» Jetzt wäre das depperte Navi eine große Hilfe, ist aber nicht. Die gedachte Ankunftszeit am Campingplatz von Gössitz an der Saale verschiebt sich immer weiter nach hinten, die verlorene Zeit bleibt auf nicht unromantischen Nebenstraßen liegen. Kurz vor Licht-Aus ist das Ziel dann doch erreicht, das Zelt aufgebaut, ein Erfrischungsgetränk in Arbeit. Die aufgereihten Wohnwägen sind alle unbewohnt und auch im offenen Gasthaus bin ich der einzige Gast. Aus dem Radio dröhnt eine bereits zart betrunkene «Oh du fröhliche …» Live-Gesangs-Übertragung von irgendeinem Weihnachtsmarkt. Gnade! Sperrstunde 18 Uhr. Was macht man zur frühen Stunde bis zum Schlafen gehen, ohne Licht, ohne Heizung, ohne Unterhaltung? Morgen bin ich gescheiter.