Ein Ruhetag, eine Stalinstadt und Muki die Lokomotive



5. Tag: Dienstag, 12. Dezember 2023

Strecke: Dunaújváros

Eine Mischung aus Erschöpfung und Reizüberflutung sorgt für eine fast schlaflose Nacht und mündet in einem Ruhetag. Selbst das Reisen wird mit dem Alter nicht einfacher …
Einmal noch liegen bleiben ohne schlechtes Gewissen. Der Stopp in Dunaújváros ist aber auch bewusst gewählt, die Industriestadt an der Donau ist ein echtes Unikat. Schön ist sie nicht, dafür hat sie eine außergewöhnliche Geschichte. Das Zentralkomitee der ungarischen Kommunisten hatte den glorreichen Einfall aus dem Dorf Dunapentele eine Retortenstadt zu Ehren des Genossen Stalin zu errichten. Ein Stahlwerk samt angeschlossenen Wohnsiedlungen für das arbeitende Volk, genauso wie in anderen osteuropäischen Ländern. Künstlich errichtete Industrie-Schlaf-Burgen wie Nowa Huta in Polen oder Eisenhüttenstadt in der DDR. 1952 wurde Dunapeterle zu Sztálinváros, zur Stalinstadt. Eine Stahlfabrik wurde aus dem Boden gestampft und die dazugehörenden Wohneinheiten im Stile des sozialistischen Realismus/Klassizismus. Als Stalin 1953 den Löffel abgab wurde der eigentliche Entwurf des Architekten Tibor Weiner teilweise wieder verworfen. Der Stadt blieb eine große Stalinstatue erspart, ebenso verworfen wurden die geplanten Statuen der „Helden der Arbeit“ entlang der Stalinstraße und auch das geplante Stadtzentrum wurde nicht mehr realisiert.
Heute heißt die Stadt Dunaújváros und aus der Stalinstraße wurde die Vasmű ucta, die Stahlwerkstraße. Der Lokalaugenschein führt durch eine Stadt mit Haupstraße, aber ohne richtigem Zentrum. Abseits der planmäßigen Wohneinheiten hat sich der viel kostengünstiger Plattenbau durchgesetzt. Für die Revitalisierung der realsozialistischen Baudenkmäler fehlt das Geld und so bröckelt Dunaújváros mit den Jahren vor sich hin. Wer die Möglichkeit hat packt seine Koffer, junges Blut ist Mangelware. Ein Historiker soll einmal den Ausspruch getätigt haben: „Nur wer einen Vogel hat verweilt länger als nötig in Dunaújváros!“ Somit wären alle Zweifel ausgeräumt.
Eine harmlose Auflockerung im Stadbild ist „Muki“, eine in Berlin gebaute Lokomotive, ehemals im Einsatz der Pioniereisenbahn. Einrichtungen zur erbaulichen Zerstreuung gibt es wenige, die tagtäglichen Bedürfnisse befriedigen internationale Ketten und Unterhaltung ist nicht angesagt. Sogar um sich den Frust von der Seele zu saufen müssen viele Meter gelaufen werden um eine geeignete Gaststube zu finden. Die versteckte „Corso Étterem és Söröző“ ist so eine – unscheinbar, wunderbar – mit lokaler unverstellter Küche. Dann ist aber schon wieder Schicht im Schacht!

Rhythmus finden, durch die Metropole durch und mit dem Zug schdromabwärts




4. Tag: Montag, 11. Dezember 2023

Strecke: Visegrád – Szentendre – Budapest – Dunaújváros

Streckenlänge: 120 km (403 km)

Jeder Abfahrtstag birgt eine gewisse Unruhe in sich: das Wetter, die Distanzen, der Schlafplatz, der eigene physische Zustand, …. Die ersten gefahrenen Kilometer bringen zurück in den gewohnten Rhythmus. Der geklimperte Weihnachts-Schlager aus dem Frühstücksraum hat sich eingebrannt und ist nicht abzuschütteln. 
Zwischen Visegrád und Szentendre ändert der Schdrom seinen Lauf und knickt von Ost nach Süd zum „Donauknie“. Die barocke Kleinstadt Szentendre liegt an einem Donauarm. Eine einst ansässige Künstlerkolonie hat ihr den Beinamen „Künstlerstadt“ beschert. Ein perfekter Slogan für die Tourismuswerbung und aus Kunst wird Kitsch und Konsum. Die in den warmen Jahreszeiten überfüllten Gassen haben ihre Ruhe wiedergefunden, nur eine handvoll Besucher_innen aus dem fernen Osten streifen durch die Innenstadt und lassen die Kassen der Ramschläden klingeln. Eine Reisebegleitung hält eine Brandrede für den ungarischen Paprika. Die zahlreichen Cafes am Fluss haben großteils geschlossen und die reizvolle Promenade wirkt beschaulich wie selten.
Idyllisch wie nie ist auch der Donauradweg, Teil des EuroVelo 6, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. Die am stärksten befahrene Radroute Europas führt einsam und verlassen bis an den Stadtrand von Budapest. In der ungarischen Metropole ist es mit der Einsamkeit dann auch schon wieder vorbei. Die Stadteinfahrt kann mit einigen Attraktionen aufwarten: Auf der Pester Seite erscheint bald das monumentale Parlamentsgebäude, auf der Budaer Seite grüßt schon aus der Ferne die Freiheitsstatue auf dem Gellértberg, durch die Häuserfronten lässt sich kurzfristig die Fischerbastei erblicken, der Burgpalast auf dem Burgberg und unzählige Donaubrücken. Rund um die Kettenbrücke ist der Besucher_innen Ansturm am massivsten und die Lust auf eine Nacht in der schon mehrmals besuchten Hauptstadt bröckelt. Bei einem Erfrischungsgetränk in einer mehr als bodenständigen Ausschank fällt der Groschen auf Weiterfahrt. Vom Bahnhof Kelenföld fährt ein Zug in meine Richtung. Der viertgrößte Budapester Bahnhof hat schon ruhmreichere Zeiten erlebt, das alte Bahnhofgebäude ist abgezäunt und der derzeit aktive Teil befindet sich unter der Erde. Einen erlebten Raufhandel unter „Bahnhofspezln“ später rollt der Pendlerexpress schdromabwärts mit dem Ziel Dunaújváros.

Wintereinbruch, ein Bummel-Zug und ein Kaff mit Burg



3. Tag: Sonntag, 10. Dezember 2023

Strecke: Komárom – Almásfüzitő – Esztergom – Dömös – Visegrád

Streckenlänge: 79 km (283 km)

Der morgendliche Blick aus dem Fenster verspricht nichts Gutes: Ein Meer in Weiß. Der Wurlitzer im Kopf legt gleich die passende Schallplatte auf: „De Woaheit is so weiss wie Schnee“, ein Wolfgang Ambros Klassiker aus seinen besten Zeiten.
Die gestrige Verzweiflung hat sich trotz Wetterkatastrophe weitgehend aufgelöst. Aufgeben? Aufgegeben wird ein Brief!
Komárom ist eine geteilte Stadt, der nördliche Teil gehört seit 1920 zur Slowakei (Komárno). Die beiden Stadtteile sind durch die Donau voneinander getrennt und durch drei Brücken miteinander verbunden. Vom ungarischen Teil gibt es weniger zu erzählen, bis auf die Geburt zweier außergewöhnlichen Persönlichkeiten. Der eine, Theodor Körner, so erzählt die Legende, wäre auch bei einem Wetter wie heute nur im Anzug, ohne Hut und Mantel, außer Haus gegangen. Über den einstigen Wiener Bürgermeister und späteren Bundespräsidenten gäbe es noch einige weitere skurrile Anekdoten. Der andere, Franz Lehár, hatte ein Händchen für volkstümlich klassische Melodien. Er hat uns unter anderen die Operette „Die lustige Wittwe“ beschert.
Die Hauptstraßen bieten ein Schlachtfeld aus Schnee, Eis, Matsch. Die Radwege hingegen strahlen in jungfräulichem Weiß. Herausfordernd zu befahren sind beide.
Die Landschaft rundherum wirkt als hätte sie alle ihre Farben verloren, wie eine Fotografie in Schwarz und Weiß. Vereinzelte realsozialistische Überreste säumen den Straßenrand. In Almásfüzitő wartet ein Bummel-Zug allein auf weißer Flur auf Mitreisende. Ein Hoch auf das Faltrad, drei Handgriffe und Rad sowie Fahrer sitzen im ausgemergelten Triebwagen und warten auf die Abfahrt nach Esztergom.
Ein Dom auf einem Hügel beherrscht die einstige Hauptstadt des Königreichs Ungarn. Am Fuße führt ein Traum von einem Radweg direkt am Schdrom entlang. Die Fähranlegestelle von Dömös lädt zu verweilen ein und die letzten Kilometer auf der Bundesstraße nach Visegrád sind mehr Kür als Pflicht. Visegrád ist ein Kaff mit einer Burg am Berg. Der Rundblick von oben bietet ein eindrucksvolles Donau-Panorama. In den Sommermonaten wird der Ort zum Tourismusmagnet, in der kalten Jahreszeit hält er seinen Winterschlaf. Es gibt keine Punsch-Hütten, dafür ein ordentliches Gasthaus. In der urigen Wirtsstube der Gulyás Csárda wird hemdsärmelige Hausmannskost serviert. 
Draussen vor der Tür wird von Tages- auf Kunstlicht umgestellt. Am Bergkegel erstrahlt die Königsburg und am Boden hüllt sich der Schdrom in  Dunkelheit.

Eine Schlaf-Vorstadt, ein Zombieball und kein Bett



2. Tag: Samstag, 9. Dezember 2023

Strecke: Bratislava (SK) – Rajka (HU) – Mosonmagyaróvár – Győr – Komárom

Streckenlänge: 125 km (203 km)

Der Start in den Tag verzögert sich, der Koch hatte andere Pläne und das ersehnte Frühstück lässt auf sich warten. Das Stadtzentrum wird wiederholt großräumig umfahren, stattdessen empfiehlt sich ein Kurzbesuch des slowakischen Rundfunkgebäudes. Architektonisch frech, eine auf den Kopf gestellte Pyramide. Über die Starý most (Alte Brücke), eine Straßenbahn-Rad-Fußgänger-Brücke wird die Donau gequert und es beginnt das Abenteuer Petržalka. Das ehemalige Dorf wurde 1961 offizieller Stadtteil Bratislavas und ab den 1970er Jahren zu einer sozialistischen Plan-Plattenbau-Stadt aufbetoniert. Inklusive riesiger Gewerbe-Bunker und dominanter Stadtautobahnverbindungen. Der Grauschleier über der Stadt macht das Bild noch dramatischer. Eine für den Autoverkehr gesperrte Straße nach Čunovo, dem südlichsten Stadtteil, bringt Erleichterung. Und schon rollen die Räder auf ungarischem Asphalt durch die Grenzortschaft Rajka. Der aufkommende Eisregen lässt keinen Frohsinn aufkommen. Győr noch bei Tageslicht zu erreichen ist unrealistisch, zu viel verzögerte Zeit. Ein Radweg neben der Hauptstraße führt bis Mosonmagyaróvár. Und ein hoffnungslos überfüllter Zug bringt Rad und Fahrer ins angedachte Etappenziel.
Győr steht das Wasser bis zum Hals, hier teffen sich die Flüsse Rábca, Raab, Marcal und die Mosoner Donau bevor sie gemeinsam ihren Weg ins Schwarze Meer aufnehmen. Soviel zu den Fakten, die gespürte Realität ist unverwässert: Ein noch nie erlebter Weihnachts-Zirkus, samt Riesenrad und heißem Alkohol. In der Kopf-Playlist singt Georg Danzer: „Heut ist Zombieball!“ Dem nicht genug, kein einziges Bett in der ganzen Stadt. Verzweiflung macht sich breit. Zurück zum Bahnhof und eine Stadt weiter. Neues Ziel Komárom. Ein Schlafplatz lässt sich auftreiben, nur die Küche bleibt kalt. Alle Anlaufstellen sind entweder geschlossen oder verköstigen eine geschlossene Gesellschaft. Als Betthuperl gib es Fastfood und Bier …

Vom Belgradplatz nach Belgrad



1. Tag: Freitag, 8. Dezember 2023

Strecke: Belgradplatz (Wien) – Essling – Leopoldsdorf im Marchfeld – Schloßhof – Devínska Nová Ves (SK) – Bratislava

Streckenlänge: 78 km

Während sich die Wienerstadt für einen zum Einkaufstag umfunktionierten Feiertag rüstet,  finden sich Faltrad und Fahrer zum Tourstart am Belgradplatz ein. Das Ziel steckt im Namen des Ausgangspunktes. Der Platz im 10. Wiener Gemeindebezirk verdankt seinen Namen dem „edlen Ritter“ Prinz Eugen, der die heutige serbische Hauptstadt vor Jahrhunderten aus den Händen der Türken befreite. Barankapark und Hellerwiese nehmen den Platz für sich ein. An der Hellerwiese befand sich einst die Schokoladen- und Zuckerl-Fabrik der Gebrüder Heller. Das damals noch unverbaute Gelände diente den fahrenden Lovara, Roma und Sinti als Sammelplatz. 1941 endete ihre letzte Reise in den Konzentrationslagern des NS-Regiems. Die Umbenennung des Parks erinnert an diesen Massenmord.
Die Gehwege rund um den Platz haben sich weitgehend von den Schneeresten befreit, nur der Barankapark versteckt sich noch unter einer zarten, weiß gefrorenen Decke. Die Favoritner Einkaufsmeile befindet sich noch im Ruhemodus,  nur am Wiener Hauptbahnhof herrscht bereits reger Betrieb. Über den Donaukanal, über die Donau, ein Stück die Neue Donau entlang. Auf der Höhe der legendären Gaststätte Roter Hiasl hat der Körper bereits seine angenehme Betriebstemperatur erreicht. Der Donauradweg durch die Auen ist aufgrund der momentanen Schneewetterlage unbefahrbar, als Alternative findet sich eine Landstraße durch das Marchfeld. Die unendlichen Weiten des Tiefkühl-Gemüse-Anbaus. Ein einsames graues Band, führt durch ein Meer aus Weiß in Richtung Schloßhof. Die Ortschaft hat weniger als 100 Einwohner, besteht zum überwiegenden Teil aus barocken Schloss-Anlagen und die March als Grenzfluss zur Slowakei ist nur einen Steinwurf entfernt. 2012 wurde die „Fahrradbrücke der Freiheit“ über den Fluss gespannt. Der ehemals undurchdringliche „Eiserne Vorhang“ hat hier inzwischen an Schrecken verloren, nur der Brückenname soll an die Opfer erinnern. Ein einzigartiges 360-Grad-Panorama besticht am höchsten Punkt der mehrfach geschwungenen Überführung: Ein Schloss, ein Fluss, viel Auland, seltsame Vögel, Plattenbauten. Am anderen Ufer wartet der Bratislava Stadtteil Devínska Nová Ves. Die Burgruine Devín bröckelt über dem Zusammenfluss von March und Donau. Zu ebener Erde beklagt das Denkmal „Tor der Freiheit“ die bei Fluchtversuchen getöteten Opfer. Die letzten Kilometer ins Stadtzentrum führen flussabwärts bis zur Promenade direkt am „Schdrom“. Schon von weitem sichtbar, das über dem Fluss schwebende Ufo der Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes, der SNP Most. Auch die slowakische Hauptstadt befindet sich im weihnachtlichen Ausnahmezustand. Das Zentrum wird weiträumig umfahren, die heutige Liegestadt befindet sich abseits vom Trubel.