Baba Berlin, Servus Magdeburg und Je-Je-Je


Sonntag 18. Dezember

Karte

Strecke: Berlin – Magdeburg (Zug)

Berlin, Tschüss, Baba! Es heißt Abschied nehmen. Nach einer langen Nacht, ein letztes Frühstück mit den Freunden. Auch von der Liebsten trennt sich der Weg. Sie muss zurück nach Wien, ich nach Magdeburg. Ein letztes Mal die Greifswalder Straße hinunter, ein letztes Mal grüßt Ernst Thälmann. Auf leichten Rädern die Bernauer Straße hinunter, immer der Mauer entlang bis zum ehemaligen Lehrter Bahnhof, dem heutigen Hauptbahnhof. Auf Grund eines „Personenunfalls“, ein neuer Abfahrtsort: Berlin Ostbahnhof. Unerwartet geht es noch einmal durch die Stadt. Berlin im Kunstlicht. Noch einmal das Brandenburger Tor, Unter den Linden, Alex, Fernsehturm. Aber jetzt, Baba Berlin, bis bald. Servus Magdeburg. Und gute Nacht. Ab heute gibt es verkürztes Kulturprogramm, denn ab morgen beginnt die Heimreise. Mit dem Brompton immer der Elbe entlang.
Noch ein kurzer Nachtrag zu gestern. Nieselregen-Ausflug nach Berlin Weißensee. Pop-Historisch ein bedeutender Ort in der ehemaligen DDR. Jugendkultur und Sozialismus waren in der gesamten DDR-Ära ein problematischer Diskurs: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen“, polterte Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR, 1965 auf einem Plenum des ZK der SED. Selbiger Ulbricht der noch vier Jahre zuvor felsenfest behauptete, „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“. In Berlin West gastierten derweilen die Großen Nummern des Pop-Business wie Barcley James Harvest, David Bowie oder Pink Floyd. Es gab Randale in Ost-Berlin. Die Ost-Jugend war populärmusikalisch völlig ausgehungert und besessen vom West-Sound. Unter Erich Honecker gab es erste sanfte Zugeständnisse um Druck aus dem Kochtopf zu lassen. Auf der Radrennbahn Weißensee gab es erstmals Großkonzerte mit Künstlern aus dem kapitalistischen Ausland wie Joe Cocker, James Brown oder Bruce Springsteen. „Born in the U.S.A.“ in der GDR (German Democratic Republic)! Heute werden am Eingang zur ehemaligen Kultstätte Weihnachtsbäume verkauft, die Gitterstäbe der Tore rosten vor sich hin, nichts erinnert mehr an die seinerzeitigen „Glory Days“.

Michael Cramer, Vater vom Berliner Mauer-Radweg und Westfälischer Dickschädel


 

Samstag 17. Dezember

Alte Potsdamer Straße unweit der neuen Hauptschlagader Berlins, dem Potsdamer Platz. Eine italienische Trattoria im traditionellen Weinhaus Huth inmitten von Stahl- und Glasriesen. Michael Cramer (http://www.michael-cramer.eu/aktuelles/) Vater des „Berliner Mauer-Radweg“ sowie des „Europa-Radweg Eiserner Vorhang“ nimmt sich viel Zeit um über seine Herzensthemen zu sprechen. Bis zur heutigen 160 Kilometer langen und mit 900 Infotafeln ausgeschilderten Mauerweg-Radstrecke rund um Westberlin war es ein weiter Weg. Beharrlich hielt der Grün-Politiker an seiner Vision fest. „Ich bin ein Westfälischer Dickschädel“, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Idee kam Cramer schon kurz nach dem Fall der Mauer: „Die Mauer muss weg, war damals die Parole und das war sehr kurzsichtig gedacht, als könnte man Geschichte ausradieren. Heute sind alle froh über die wenigen Reste die noch existieren. Die meistgestellte Frage heute in Berlin: ‚Wo stand eigentlich die Mauer'“? Sein, im österreichischen Ersterbauer-Verlag erschienener „Berliner Mauer-Radweg“-Führer ging inzwischen 50.000 Mal über die Ladentische. „Wir wollten nicht die Mauer erhalten, aber die Geschichte. Es lässt sich Geschichte, Politik, Natur, Kultur, im wahrsten Sinne des Wortes er-fahren.“ Ein weiteres Herzprojekt ist der 20 Länder verbindende „Europa-Radweg Eiserner Vorhang“ (http://www.eurovelo.com/de/eurovelos/eurovelo-13?set_language=de). Doch am Anfang dieser 10.000 Kilometer langen länderübergreifenden Langstrecke stand der Deutsch-Deutsche Radweg. Neben Herz und Hirn beweist Cramer eine große Portion Witz: „Buchstabieren Sie einmal Deutsch-Deutscher Radweg!“
Im Schlusssatz bingt der charismatische Rad-Aktivist alles auf einen Punkt: „Es waren die Menschen die die Welt verändert haben. Die Mauer in Berlin wäre nicht gefallen ohne Solidarność, ohne die Singende Revolution in den Baltischen Staaten, ohne Charta 77, ohne die Demokratiebewegung in der DDR, die Menschen haben die Welt verändert, die Politik in Ost und West hat darauf nur reagiert, reagieren müssen. Das dürfen wir nie vergessen!“

Nachtrag:

Niemals vergessen, die Maueropfer
Litfin, Gueffroy, Bramböck

28 Jahre stand die Berliner Mauer, vom 13. August 1961 bis 9. November 1989. In dieser Zeit starben 128 Menschen bei Fluchtversuchen. Der erste Mauertote war Günter Litfin, er wurde am 24. August 1961 als er durch den Humboldthafen an das westliche Ufer schwimmen wollte erschossen. Das letzte Maueropfer war Chris Gueffroy, er starb am 6. Februar 1989 im Kugelhagel beim Versuch durch einen Verbindungskanal von Treptow nach Neuköln zu schwimmen. Aber auch nach ihrem Fall blieb die Mauer tödlich. Der erst 14jährige Christoph-Manuel Bramböck betätigte sich wie viele andere als „Mauerspecht“ um Erinnerungsstücke herauszuschlagen und wurde dabei am 31. August 1990 von einer herabfallenden Mauerplatte erschlagen.

Schrippe versus Semmel, Wiener- trifft Berliner Küche


Freitag 16. Dezember

Heute keine Curry-Wurst, heute ist Kochtag, ein Wiener Klassiker soll Berlin erobern. Das Wiener Gulasch. Klingt auf Anhieb vielleicht nicht wirklich knackig, aber ein richtig gutes (nicht gestrecktes) Wiener Saftgulasch ist auch in Wiener Wirtshäusern inzwischen schon eine Seltenheit.
Am wichtigsten sind das richtige Fleisch und viel Zeit. Und wie erklärt man „Wodschunken“ einem Berliner Metzger? Die Zwiebel (gleiche Menge wie Fleisch) sehr fein, würfelig schneiden. Die Augen tränen. Beim „Kochachterl“ werden die Wien-Berliner Koch- und Essgewohnheiten verglichen. Sprachlich gibt es da schon mal einige Missverständnisse: Schrippe – Semmel, Boulette – Fleischlaberl, Broiler – Grillhendl, Bockwurst – Knacker, Eierkuchen – Palatschinken, Klöße – Knödel, Wiener-Würstchen – Frankfurter, …
Während das Gulasch köchelt steht noch ein Treffen mit dem Vater des Berliner Mauerradweges, sowie des Eisernen Vorhang Radweges, Michael Cramer am Programm. Davon morgen mehr. Am Weg dorthin gibt es eine Wettfahrt: BVG (Berliner-Verkehrsbetriebe) gegen Brompton (Faltrad). Die Strecke Prenzlauer Allee bis Potsdamer Platz. Nur kurz: die Bestzeit geht an das Brompton samt Fahrer, die BVG-Fahrerin trifft 15 Minuten später ein.
Inzwischen ist das Gulasch tellerfertig. Die Mägen knurren. Stößchen und Mahlzeit!

Rendevouz an der Weltzeituhr, kaputte Mitte und Tram, Tram, …


Donnerstag 15. Dezember

In der Kulturbrauerei herrschte Hochbetrieb, in den Höfen der Backsteinburg tobt gerade ein Weihnachtsmarkt. In der Kultur- und Schankwirtschaft Baiz (http://www.baiz.info), zwei Ecken weiter in der Schönhauser Allee, ist ebenfalls die Hölle los, die antikapitalistische. Die linke Szene-Kneipe besticht allein schon durch ihren Schlachtruf: „Kein Bex, kein Latte, kein Bullshit und dann auch noch Selbstbedienung!“ Zwischen den Extremen liegt der gemütliche Künstlertreff Watt in der Metzer Straße.
Heute ist Feiertag aus zweierlei Gründen, der Mauerradweg ist abgestrampelt und es kommt die Liebste zu Besuch. Treffpunkt: 13:00 Weltzeituhr. Romantisch.
Weiters ein kurzer Berlin-Eindrücke-Mix: Am Alexanderplatz warnt die Polizei über Lautsprecher vor Trickbetrügern. Das uralte Hütchenspiel funktioniert bei Tourist_innen noch immer. Unglaublich. Berlin-Mitte ist inzwischen zu Tode renoviert. Die Berliner-Verkehrsbetriebe werben mit dem besten Öffi-Spruch: „Weine nicht wenn der Regen fällt … Tram, Tram … Tram,Tram!“ Drafi-Deutscher-Mix. Jetzt ist auch der letzte Stein des Palstes der Republik abgetragen und das neue Schloss-Berlin ist schon weit fortgeschritten. Die Geschichte wird von den Siegern repariert. Im Ernst Thälmann Park gleich neben der stark befahrenen Greifswalder Straße liegt ein Mini-Naturschutzgebiet samt Reiher eingebettet zwischen Plattenbauten. … Ich muss zu Ende kommen, der restliche Abend gehört den Freunden und der Liebsten.

Rodeln an der Mauer, ein Wachturm trägt Mütze, Geschichte wird Geschäft


Mittwoch 14. Dezember

Strecke: Mandelstraße – Bernauer Straße – Nordbahnhof – Brandenburger Tor – Potsdamer Platz – Checkpoint Charlie – Schillingbrücke – quer durch die Stadt zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 20 Kilometer      Gehzeit: ca. 7 h

Die „Rumbalotte“, vorübergehend in alten Brauereigemäuern eingemietet, war programmfrei und somit leider geschlossen. Dafür gab’s in der empfehlenswerten „Bornholmer Hütte“, einer Traditionskneipe mit über 100jähriger Vergangenheit, ein richtiges Berliner-Menü: Bockwurst, Boulette, Kartoffelsalat.
Heute bleibt das Brompton zusammengefaltet. Der Verlauf der Mauer durch die Stadt will erwandert werden. Der Mauerpark (Start) grenzt an die Bernauer Straße, die 28 Jahre lang von der gleichlaufenden Eberswalder Straße getrennt war. Hier ermöglichte ein Podest auf westlicher Seite Tourist_innen und Berliner_innen einen Blick über die Mauer in den Osten. Wie im Zoo. Zahlreiche Hinweistafeln, großflächige Fotos und Hörbilder erzählen von geglückten Fluchten, Todesfällen, und schmerzhaften Trennungen. In den Brachlücken werden Nordland-Tannen verkauft. An der Gedenkstätte Bernauer Straße steht noch ein 200 Meter langes Stück originaler Mauer. Es folgen Reichstag, Brandenburger Tor und der Potsdamer Platz. Mit jedem Schritt werden die Szenen skuriller. Eine Winterrodelbahn samt angeschlossenen Punschständen sorgen für Hüttengaudi gleich neben dem Mauerstreifen. In der Erna-Berger-Straße unweit des Potsdamer Platzes trägt ein ehemaliger Grenz-Wachturm eine Weihnachtsmann-Mütze XXL. Curry On The Wall verkauft Würste und am Checkpoint Charlie gibt es Russenmützen im Sonderangebot. Die Mauer wird zum Rummelplatz. Schnell weiter. Verwinkelt schlängelt sich die Mauerführung durch Kreuzberg. Wer sich nicht sicher ist, wo jetzt der ehemalige Osten liegt, orientiert sich am besten an den Neubauten, da war einmal Osten. Kreuzberg ist eine einzige, große Baustelle. Nach Überquerung der Schillingbrücke schließt sich der Kreis. Die 160 Mauerkilometer sind komplett. Nach den vierzehn heute abgegangenen Kilometern brennen die Sohlen. „Habe fertig!“ (© Giovanni Trapattoni), auf in die Kulturbrauerei.

Seenplatte, Grüner Wald und Häuserkampf in Prenzlauer Berg


Dienstag 13. Dezember

Strecke: Mandelstraße – mit der S-Bahn bis Wannsee (Start der 4. Mauerradweg-Strecke) – mit der Fähre nach Kladow – Groß Glienicke – Staaken – Spandau – Henningsdorf (Ende der 4. Mauerradweg-Strecke) – mit der S-Bahn in die Mandelstraße

Streckenlänge: 40 Fahrradkilometer Fahrzeit: ca. 3 h

So ein Heimabend wirkt Wunder. Rundum fit beginnt die vierte Teilstrecke mit einer Bootsfahrt über Wannsee und Havel nach Kladow. See folgt auf See. Am Groß Glienicker See steht noch ein kleines Mauerreststück und lässt in einer malerischen Kulisse das Unvorstellbare erahnen. Geschichte „er-fahren“ nennt es der Grün-Politiker und Vater des Berliner Mauerradwegs Michael Cramer. Der ehemalige Todesstreifen wird grün und legt sich wie ein Gürtel um die westliche Berlin-Hälfte. Der Artenreichtum von Tier- und Pflanzenwelt floriert im einstigen Sperrgebiet. Ab Spandau führt das sanfte Asphaltband durch den „Grünen Wald“. Grün, nicht durch das Laub, das sich längst braun gefärbt hat und die ebene Erde bedeckt. Grün, durch die von Moos bewachsenen, kahlen Baumstämme. In Henningsdorf ist wie gestern (aus anderer Richtung kommend) Endstation. Berlin am Rand ist abgeradelt, morgen wartet die Kernzone. Davor allerdings gibt es heute wieder abendliches Kulturprogramm. Der Kulturverein „Rumbalotte Continua“ (http://www.rumbalotte-continua.de) musste vor wenigen Jahren Prenzlauer Berg verlassen und wohnt inzwischen im nördlichen Pankow. Der Häuserkampf tobt, die Mietpreise wachsen ins Unermessliche, die Gentrifizierung ist nicht aufzuhalten. Die eingesessenen Ostler sind not amused und so steht auf Häuserwänden zu lesen: „Liebe Schwaben, wir wünschen euch schöne Weihnachten und bitte bleibt zu Hause!“

Es steppt der Bär, das Wunder von der Bornholmer Straße und ein wohlverdienter Heimabend


 

Montag 12. Dezember

Strecke: Mandelstraße – Mauerpark (Start der 3. Mauerradweg-Strecke) – Bornholmer Straße – Wollankstraße – Glienicke – Hohen Neuendorf – Henningsdorf (Ende der 3. Mauerradweg-Strecke)- mit der S-Bahn zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 48 Radkilometer      Fahrzeit: ca. 4 h

Die Vernunft hat abgesagt. Kultur. Party. Ende? Nie! Dabei hat alles unverfänglich mit einer Sonntagslesung begonnen. In der Luxus Bar in der Prenzlauer Allee performt Hermann Jan Ooster über den „Rhythmus der Hörgeräte“ und Kai Pohl verordnet seinen „literarischen Notfallsplan“. Auf Kunst folgt Gin-Tonic. Ein Funken Denkvermögen führt dann doch nach Hause. Routinen werden gekippt: Boulette statt Rührei zum Frühstück. Alles anders. Um die Mittagszeit wird das Brompton entfaltet und die Route wird gegen den Uhrzeigersinn umgekrempelt. Ein Prachttag. Der Mauerpark in Prenzlauer Berg ist der heutige Null-Kilometer. Etwas nördlicher der ehemalige Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Bösebrücke schrieb am 9. November 1989 Weltgeschichte als um 22.30 Uhr der Grenzübergang für alle Besucher aus dem Ostteil der Stadt geöffnet wurde. Der Anfang vom Ende der DDR. Immer den S-Bahn-Gleisen entlang dünnt sich die Stadt aus. Am Köppchensee an der nordöstlichen Stadtgrenze wird das pulsierende Berlin zur Ruheoase. Lange Geraden führen durch den Berliner Forst und die Stolper Heide bis nach Henningsdorf. Schluss für heute, jetzt beginnt ein wohlverdienter Heimabend ohne Ausgang.

Eine landschaftlich romantische Ausfahrt durch die finstere Geschichte


Sonntag 11. Dezember

Strecke: Mandelstraße – Volkspark Friedrichshain – mit der S-Bahn bis Lichtenrade (Start der 2. Mauerradweg-Strecke) – Marienfelde – Teltow – Dreilinden – Klein Glienicke – Wannsee (Ende der 2. Mauerradweg-Strecke) – mit der S-Bahn zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 45 Radkilometer     Fahrzeit: ca. 3 h 30 min

Sonntag Morgen. Die Straßen leergefegt und die ansonsten überfüllten Straßenbahnen fahren einsam durch die Gegend. Der Bär ist müde, Berlin schläft noch. Selbst der Alex vergräbt seinen Kopf unter einer dicken Wolkendecke und es tröpfelt am Asphalt. In den ersten Tagen zeichnen sich bereits einige Routinen ab: Lecker Frühstück und Netzzugang gibt es bei einem türkischen Bäcker/Lebensmittel-Laden nahe dem Volkspark Friedrichshain, die Ring-S-Bahn ist neben dem Brompton das Hauptverkehrsmittel und in der Bierquelle, einer Raucherkneipe auf der Greifswalder Straße, entsteht der tägliche Blog. Ab Lichtenrade wird die Mauerspur wieder aufgenommen. Die heutige Etappe ist etwas kürzer bemessen. Das Wetter ist bescheiden, der Kadaver ist müde. Es geht durch Felder, Wälder und Kirschbaumalleen, immer den Kolonnenweg entlang bis sich nahe Potsdam eine Seenlandschaft ausbreitet. An den Rändern hat sich die Natur den Mauerstreifen zurückerobert, eine wildromantische Strecke, wären am Wegesrand nicht all die Erinnerungstafeln an die unzähligen Maueropfer. Die Fotokamera verbringt den Großteil der Strecke unter der Regenhaut, die fotografische Ausbeute des heutigen Tages wird somit dürftig ausfallen. Finster wirds, am Wannsee endet die sonntägliche Ausfahrt. Das abendliche Kulturprogramm wird diesmal zeitlich beschränkt, der Körper fordert sein Recht auf Schlaf.

Metal-Kneipe, Mauer-Zirkus, Berlin am Rand


Samstag 10. Dezember

Strecke: Mandelstraße – East Side Gallery (Start der 1. Mauerradweg-Strecke) – Oberbaumbrücke – Sonnenallee – Gropiusstadt – Lichtenrade (Ende der 1. Mauerradweg-Strecke) – mit S-Bahn zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 50 Radkilometer       Fahrzeit: ca. 4 h

Die letzte Station des gestrigen Abend ist die Metal-Kneipe „Blackland“ zwecks Netzzugang. Live-Musik-Dröhnung inklusive. Trotzdem frisch gestaltet sich der Tourstart. Die East Side Gallery ist die denkbar schlechteste Wahl für den Einstieg in den Mauerradweg. Das längste noch erhaltene Mauerstück, ist ein touristischer Hotspot. Zwei sich Bussi gebende ältere Männer („Bruderkuss“ von Leonid Breschnew und Erich Honecker) haben Busladungen von Knipser_innen zur Folge. Die Mauer verkommt zum Zirkus, zu einem gruseligen Disneyland. Eine Stop-And-Go-Etappe führt zur Oberbaumbrücke. Die letzten Übriggebliebenen der vergangenen Nacht mühen sich von Friedrichshain über die Spree nach Kreuzberg. Langsam kehrt Ruhe ein. Eine Doppelreihe Kopfsteinpflastersteine markiert den innerstädtischen Grenzverlauf. Verwinkelt und für Spätgeborene kaum real vorstellbar. Ein einsamer ehemaliger Wachturm in Alt Treptow, inzwischen sehr bunt, steht orientierunglos im Park. In Folge wird der ehemalige Grenzverlauf geradliniger und ländlicher. Statt einer Mauer trennt aktuell eine Autobahn die Stadtteile. Felder, Wiesen, kleine Teiche, sehr viel Gegend, bis sich die Gropiusstadt im Hintergrund abzeichnet. Der ehemalige Mauerstreifen ein Erholungsgebiet für Jogger, ein Auslaufgebiet für Hunde samt Besitzer_innen. Am Bahnhof Lichtenrade ist vorerst einmal Endstation, das Brompton wird gefaltet und die S-Bahn bringt es nach Hause. Der Kopf ist voll, der Bauch ist leer. Die lieben Freunde sind am Kochen! Die Metal-Kneipe lass ich heute aus.

Musikalischer Advent, quer durch Berlin und eine Wiener Berliner Freundschaft


Freitag 09. Dezember

Karte

Strecke: Sigmundsgasse (Spittelberg) – Wien Schwechat – Berlin Tegel – Mandelstraße (Prenzlauer Berg)

Gestern Abend mitten im Achten konzertierte noch der wunderbare Gitarrist Gottfried Gfrerer im Rahmen des Wiener Musikalischen Adventkalenders. Heute Abend wartet polnische Gastlichkeit in Prenzlauer Berg mitten in Berlin. Dazwischen liegen eine Radkurzstrecke zum Wiener Flughafen, eine polizeiliche Verwarnung wegen ungebührlichen Wasserlassens (Einzelheiten würden jetzt zu weit führen), eine Flugkurzstrecke nach Berlin und der Hauptgrund: die Pflege einer wunderbaren Wiener-Berliner-Freundschaft. Ein weiterer Hauptgrund ist eine Extra-Exkursion im Rahmen der Eisernen-Vorhang-Radtour – der Berliner-Mauerradweg – einmal rund um West-Berlin. Warum im Dezember? Darum: Flucht vor dem Wiener-Weihnachtsmarkt-Wahnsinn (kurz WWW) und die Hoffnung, die kapitalistische Unvernunft auswärts besser zu ertragen. Die ersten Berliner Faltrad-Kilometer sind inzwischen abgeradelt, einmal quer durch die Stadt: Schloss Charlottenburg, Bahnhof Zoo, Gedächtniskirche, Siegessäule, Brandenburger Tor, Unter den Linden, Alexanderplatz, Alex, …  Kurz vorm Ziel grüßt Ernst Thälmann. Zu Hause. Jetzt werden die Berliner Freunde geherzt.