Eine Kurzstrecke, ein weißes Meer und zwei Welten


5. Tag: Montag, 17. Dezember

Strecke: Bela Crkva – Vršac

Streckenlänge: 45 Kilometer

Heute ist eine Kurzstrecke vorgesehen. Die Problemstellung im Vergleich zu den letzten Tagen ist eine andere. Kein Neuschnee in Sicht, dafür ist es rutschig wie nur und nebenbei eisig kalt. Die Nebenstraßen verkommen zur Rutschpartie, einzig die gut aufgeräumte Hauptstraße Richtung Vršac ist befahrbar. Ein grauer Beistrich mitten in einem Meer aus Weiß. Gefühlt immer gerade aus, die einzige Ablenkung ein paar mickrige Dörfer. Die Häuser-Ansammlungen wirken bei dieser Wetterlage noch trostloser als zu gemäßigteren Jahreszeiten. Die Aussicht ist gleich Null, Nebel verdeckt die umliegende Weite. Heute helfen auch die Plastik-Sackerl in den Schuhen nix, die trockene Kälte kriecht bis unter die Haut. Die Weinstadt Vršac wird zur Tagesmitte erreicht. Erster Lichtblick der Mittagstisch im erdigen «Restoran FK». Sarma (Kohlrouladen) vom Feinsten. «Reine Männersache», im spärlich beleuchteten Inneren spielen Männer-Runden Karten und erfrischen sich an hochprozentigen Erfrischungsgetränken. Einzig die Bedienung ist weiblich.
Die Schneeräumung in der Stadt ist mehr als dürftig ausgefallen, der Weg zum Busbahnhof morgen wird aufgrund der zu erwartenden Minusgrade zum Hürdenlauf, die Strecke wird gesplittet. Der Blog entsteht heute in der rauen Männerwelt des Wirtshaus FK.
Und zur Krönung des heutigen Abends mach ich einen auf «Feinspitz», das Dinner nehme ich im «Ethno Restaurant Dinar». Sehr rustikal, Holzverstrebungen, orthodoxe Gesichter blicken von den Wänden, Holzfässer und Weinkultur rundherum, passendes Tisch-Gedeck, schwarze Hosen, weiße Hemden, … Es wird ein geiles Tröpferl serviert, «Beli Burgundac», ein wunderbares Schweinderl vom Grill und ein wunderbarer Schopska Salat, alles traumhaft! ABER, den Absacker nehm ich doch lieber in der «Männerwirtschaft FK», wo der Bodensatz zu Hause ist – jede/r dort wo er/sie hingehört – ich hab mich entschieden! Zum Schluss, ein Detail am Rande: Die Karten-Runde ist immer noch vor Ort …

Ein Hoch auf das Plastiksackerl, fahren wie der Hirscher und ein Wintermärchen


4. Tag: Sonntag, 16. Dezember

Strecke: Liubcova – Moldova Veche – Măcești (RU) – Bela Crkva (SRB)

Streckenlänge: 67 Kilometer

Der Schneefall macht keine Pause, alles rundherum ist weiß! Mit dem Rad wird die heutige Etappe zur Gänze nicht zu bewältigen sein, aber Tritt für Tritt und situationsbedingt entscheiden. Es kommt anders, nach der gestrigen «Winter-Tragödie» läuft heute alles wie am Schnürchen! Zur Vorbereitung: obwohl es gerade nicht en vogue ist, weil sehr böse, trotzdem: «ein Hoch auf das Plastiksackerl»! Sind mir gestern noch die Füße vor Nässe und Kälte fast abgefroren, kommt heute ein «Sackerl» über die Socken und siehe da – perfekt! Die Ausfahrt beginnt auf einer reinen Schneefahrbahn, weshalb gilt: «Carven wie der Hirscher», immer in der Spur bleiben, weil sonst ist man schnell im Out! Schneepflüge bringen Ordnung in das Chaos. Schnurgerade geht es, durch verschneite Landschaften, herzseitig immer den «Schdrom» entlang. Keine Menschen, kein Trubel, kein Verkehr, nur der «Schdrom» und Landschaft. Am anderen Ufer versinkt Serbien im Schnee, einzig die Festung Golubac erhebt sich über die weißen Massen. Etwas später meldet sich eine Grenz-Polizei-Streife. In Rumänien sind auch die «Kibera» außergewöhnlich freundlich, auf eine Pass-Kontrolle wird verzichtet, stattdessen werden Freundlichkeiten ausgetauscht – «Drum Bun», gute Reise! Auf die einzige Hunde-Attacke des Tages wird mit Gelassenheit reagiert und in Măcești verführt eine erdige Kneipe auf ein hopfenhaltiges Erfrischungsgetränk. Das gekennzeichnete Rauchverbot wird allseits leidenschaftlich ignoriert. Bei Pojejena zweigt die Straße ab vom «Schdrom», es geht durch die Berge. Zeit sich um eine Mitfahrgelegenheit zu kümmern. Das erste vorbeikommende Vierrad bringt mich und mein Zweirad über die Höhenmeter bis zur rumänisch-serbischen Grenze. Die letzten 13 Kilometer bis nach Bela Crkva rollen sich wie von alleine. Die Kleinstadt ist bereits eine alte, liebgewonnene Bekannte, nur diesmal wird es nicht der Campingplatz, diesmal gibt es ein gemachtes Bett. Einziger Wermutstropfen, in der Stadt gibt es ein Wasserproblem, die warme Dusche ist somit vertagt. Trotzdem, der Tag zusammengefasst: ein «Wintermärchen»!

Schneechaos, Straßenhunde und drei Mal Danke Rumänien!


3. Tag: Samstag, 15. Dezember

Strecke: Kladovo – Orșova – Liubcova

Streckenlänge: 105 Kilometer

Der Tourstart steht unter dem Motto: «Coming Home For Christmas» (Chris Rea)! Wie alle Jahre wartet am 24sten zu Hause bei Mama und Papa ein «Fischerl im Bröselmantel», dazu ein Erdäpfelsalat. Und zu späterer Stunde gibt es ein Wiedersehen mit der Liebsten und den Kinderleins.
Am Einstiegstag warten ganze 105 Kilometer, bei TIEFSCHNEE, bis zur heutigen Schlafstation. Über Nacht ist der Winter über das Land gekommen, gekommen um zu bleiben. Auf weißen Straßen geht es retour in Richtung «Đerdap I» (Laufkrauftwerk Eisernes Tor I), auf der Staumauer entlang führt der Weg über die Donau auf die rumänische Seite. Die Grenzbeamten (beiderseits) sind aufgrund meiner Erscheinung amüsiert bis verwundert, aber immer freundlich. In Rumänien laufen die Uhren schneller, es ist bereits eine Stunde später als auf der serbischen Seite des «Schdroms». Rumänien ist anders. Die 15 Kilometer vom Grenzübergang bis nach Orșova, sind keine Genuss-Strecke. Schwerverkehr im Sekunden-Takt, kein Pannenstreifen, teilweise schlechter Asphalt – kurz, eine Verkehrs-Hölle. Aber, schon nach wenigen Radumdrehungen bleibt ein Kleinbuslenker – unaufgefordert! – stehen, um mich und mein Faltrad zu erlösen. Einfach so. DANKE!
Nach Orșova geht es «bergauf», leider nur mit der Fahrbahn-Steigung. Der Schneefall bleibt hartnäckig, das Weiß auf der Fahrbahn kaschiert die Straßen-Löcher und dann wäre da noch die Hinterbremse fast ohne Belag. Nicht nachdenken, treten, treten, weitertreten, … Bei Eșelnița verläuft die Straße wieder neben dem «Schdrom», immer auf der «Herz-Seite». Die Situation beruhigt sich. Kurzfristig. Labestationen sind so gut wie nicht vorhanden, eine einzige ist mir begegnet, eine mit kaputter Kaffee-Maschine. Das Verkehrsaufkommen wird  immer spärlicher, niemand unterwegs bei dem Sauwetter. Außer, Straßenhunde! Drei Attacken im Rudel, jeweils drei «Kälber» stürmen auf mich los und verfolgen mich lautstark. Äußerlich cool, gradeaus schauen, weitertreten, nichts anmerken lassen, schrillen innerlich die Panik-Glocken. Alle drei Mal nix passiert. Der Weg nimm kein Ende und das Gefühl in den nasskalten Füßen verschwindet. Weit und breit kein Automobil zum Anhalten. Bei einem Parkplatz mit Holztisch, Bänken und Unterstand wird halt gemacht um den Gaskocher anzuwerfen – Kaffee kochen und auftauen. Kaum ist das Heißgetränk  fertig, kündigt sich in der Ferne ein Vierrad an. Rufen, Winken, Bitten, … Es fährt vorbei, bremst, fährt retour und nimmt uns mit. Erfrierungen abgewendet. Die Retter heißen Tica (Vater/Fahrer), Flavius (Sohn) und Coco (Freund). Flavius spricht Englisch, versorgt mich mit Schokolade und teilt sein Erfrischungsgetränk mit mir. Direkt vor der im voraus gebuchten Unterkunft wird zur Verabschiedung ein Erinnerungs-Selfie geknipst. DANKE!
In der ersehnten Unterkunft (Pensiunea Sanella, direkt am Fluss) sind im Gastraum Tische aneinandergereiht und festlich geschmückt. Menschen kommen, ein bärtiger Mann sprechsingt, es wird Weihrauch geschwenkt, es wird gebetet, es wird gegessen – und – ich werde dazu (ausgehungert von einem mehr als anstrengenden Tag) eingeladen. DANKE!
Ein einziger Tag, drei wunderbare Begegnungen, die wären was für unsere heimischen «Krawall-Blätter» die ansonsten nur die rumänischen Gruselgeschichten erzählen. Gerädert und überwältigt von so viel Gastfreundschaft/Hilfsbereitschaft freu ich mich jetzt auf ein alkoholisches Erfrischungsgetränk! Im Übrigen: «Österreich muss Rumänien werden»!

Danke Belgrad, liebgewonnene Bekannte und frühstücken am «Schdrom»


2. Tag: Freitag, 14. Dezember

Strecke: Belgrad – Požarevac – Veliko Gradište – Donji Milanovac – Kladovo (Bus)

Zwei Uhr in der Nacht, raus mit der ganzen doppelstöckigen Reiseladung! Männer, Frauen, Kinder, alle müssen den Bus verlassen um den ungarischen Grenzbeamten ihre Pässe persönlich vorzuführen. Im Gegensatz, die serbischen Grenzer geben sich mit den abgesammelten Reisedokumenten zufrieden. Licht aus, weiterschlafen! Kurz nach Fünf rollt der Doppeldecker über die Save in Belgrad ein, gefühlt ist es noch mitten in der Nacht. Belgrad ist anders, die Menschen geben bereitwillig und freundlich Auskunft, alles ist «kein Problem», auch das Brompton wird ohne Murren im Überlandbus nach Kladovo verstaut. Hop-On-Hop-Off! Abfahrt Punkt sechs Uhr. Nach einer kurzen Autobahnstrecke wird es ab Pozarevac ländlich, ab Veliko Gradište romantisch und ab Golubac führt die Piste direkt am «Schdrom» entlang. Auf der gegenüber liegenden, rumänischen Seite blitzen Schneeflecken von den sanften Bergrücken. Am Weg winken lauter alte, liebgewonnene Bekannte: Veliko Gradište, Golubac, Donji Milanovac, alles Ortschaften an der Donau die mir ans Herz gewachsen sind. Nach 16 Stunden Reisezeit rollt der Bus endlich in Kladovo ein. Ein kleiner Schock für zwischendurch, auf die Erneuerung meiner sträflich abgefahrenen Bremsbelege wurde bei der Wiedertüchtigmachung meines Bromptons vergessen.
Wie schon bei den letzten Besuchen in Kladovo ist das «sozialistisch» anmutende Hotel Đerdap die Schlafburg meiner Wahl. Achter Stock, Balkon, Ausblick auf den «Schdrom» und die rumänische Schwerindustrie auf der anderen Seite.
Ein Frühstück zur Mittagszeit, promenieren am Schdrom, eine Runde Müßiggang bevor morgen das Beintraining beginnt. Inzwischen hat der Nebel die Umgebung verschleiert und Schneefall setzt ein, das Wetter ist eindeutig wieder auf meiner Seite ; ). Nahrungsaufnahme und die nicht geschlafenen Stunden nachholen …

Wien ist Glasgow, Erdberg ist Ostblock und flix mit dem Bus nach Belgrad


1. Tag: Donnerstag, 13. Dezember

Strecke: Wien – Budapest (HU) – Belgrad (SRB) (Bus)

Die Wiener Innenstadt spricht heute hauptsprachlich Englisch. Im Bermudadreieck drängen sich die Männer aus Glasgow, tragen Schals in blau-weiß-rot, hängen Transparente, haben ein Glas Bier in der Hand (noch vor der Mittagspause) und alle wälzen große Hoffnungen. Für nicht ballsportbegeisterte Menschen, heute Abend rittern die Glasgow Rangers gegen Rapid Wien um die Gunst der runden Kugel.
Derweilen in der Innenstadt der Alkoholpegel steigt werden letzte Reisevorbereitungen getroffen und eine möglichst «schlanke» Radtasche gepackt … Noch ein letztes Erfrischungsgetränk mit der Liebsten am Rochusmarkt. Gut erfrischt rollt es sich hinunter zum Busbahnhof Erdberg. Der internationale Busbahnhof Erdberg ist tiefster «Ostblock» von der unromantischen Seite. Oben eine vielspurige Autobahn, unten Beton. Ein grindiges Imbiss und ein nicht funktionierendes «50-Cent-WC». Die Münzen werden vom Automaten verweigert, das Drehkreuz bleibt undurchdringlich starr …
Das Faltrad wird im Bauch des Buses verstaut und der Passagierraum ist bis auf den letzten Platz belegt. Auch im Bus ist das «Häusl» fest verriegelt – «ein technisches Gebrechen», gesteht der Busfahrer. Ein Traumstart!
Zweck und Ziel der Reise sind zum einen dem vorweihnachtlichen Wiener-Punsch-Wahnsinn zu entkommen, zum anderen geht es um Bewegung in der frischen Luft und ein Rendezvous am «Schdrom» (© Ernst Molden, für die Donau). Der (angedachte) Reiseverlauf: Mit dem Bus nach Belgrad (SRB), gleich weiter nach Kladovo, einer Kleinstadt direkt am Fluss. Kladovo ist sozusagen der Kilometer Null, von hier aus geht es auf zwei Rädern zurück in Richtung Wien …
Die Grenze nach Ungarn ist inzwischen überschritten und der Druck auf die Blase steigt … Györ bringt Erleichterung, Budapest einen modernen Busbahnhof und den Anschluss-Bus nach Belgrad. Mein kleines Faltrad macht große Probleme, will nicht mitgenommen werden, es bedarf einiger Wortverdrehungen und ein zarter Aufpreis lassen es letztendlich doch noch mitreisen. Aber vorwärts jetzt und ein bisschen die Augenlider runterlassen.

Zielfoto und Zusammenfassung


29. Tag: Montag, 16. Juli

Start: Grense Jakobselv/Norwegen
Strecke/Länder: Norwegen, Finnland, Russland
Ziel: St. Petersburg/Russland
Zielfoto: Lenin-Platz/St.Petersburg
Zurückgelegte Kilometer: 2.401 km
Zeit: 28 Tage
Bettenstationen: 16 Nächte im Zelt, 11 Nächte in Hütten/Hotels
Gefangene Fische: (magere) zwei Frisch-Fische

DANK an:
Meinen Reisepartner Konstantin «Konsti-Monsti» Lindner, die Liebste, Lili Hundstorfer, Dominik Mandl (Brompton-Zauberer, www.fahrrad.co.at), Mirjam & Robert (Reiseausstatter, www.treksport.com), Schwalbe (Bereifung, www.schwalbe.com), AUGUSTIN (Medienpartner, www.augustin.or.at) und an EUCH, fürs Blog lesen, mitfiebern, Unterstützung, …!!!

Alles Liebe
Mario

ps: die nächste Reise startet Mitte September durch balkanische Länder!

Eine Notlüge, ein Reiseradler in der ersten Klasse und ein Wiedersehens-Abschieds-Fest


28. Tag: Sonntag, 15. Juli

Strecke: St. Petersburg – Wien (Flug)

Ich geb’s ja zu, das mit «um meinen Rückflug kümmern» war ein bisserl geschwindelt. Geschwindelt, weil ich meine Liebste überraschen will. Na, also!
Die letzten 24 Stunden waren die anstrengendsten der ganzen Reise. Fragen und Ängste türmen sich. Wie bring ich das Rad am besten in den Flugvogel? Wie komm ich mit dem ganzen Klumpert am Flughafen? Öffentlich? Öffentlich! Spektakuläre Fahrt mit Übergepäck vom Hotel zur Metro. Die Metro sperrt um 5.45 Uhr auf. Ein Ticket bis Moskovskaya, von dort geht der Bus zum Flughafen. Den ersten Bus sehe ich nur mehr von hinten. Der Mini-Bus geht sich gerade noch aus, beim Einstieg das befürchtete Chaos mit Faltrad plus zwei Riesen-Gepäcksstücken. Die Menschen rundherum berührt das nicht. Am Flughafen angekommen wird das Rad, Haus, Küche, … so verpackt, dass es Chancen auf eine Mitfluggenehmigung gibt. Alle Hürden werden überraschend viel einfacher überwunden als erwartet … Warum also diese blöde schlaflose Nacht?!
Am Flughafen regiert wieder der strenge Blick, Anlehnen geht nicht, gerade Stehen, genaue Musterung, nicht einmal ein Lächeln. «Do svidaniya!» Aber, das Beste kommt zum Schluss! Ich weiß nicht wem ich es zu verdanken habe, auf meinem Ticket steht Reihe 1, Sitz A. Denk mir noch, «Wahnsinn, keine Klassenunterschiede»! Sehr wohl, ich sitze, warum auch immer in der Ersten-Klasse, kaue Omlet und und erfrische mich «semi-dry» mit Weißwein. «Wahnsinn, ein Reiseradler in der ersten Klasse!» Genuss und Glück wohnen eng nebeneinander, trotzdem die Forderung: «Omlet und Semi-dry für Alle!»
Wieder in Wien gibt es am Abend die finale Party. Mit der Liebsten und der lieben Olga aus Australien. Zum zweiten Mal am Tag am Flughafen, Olga tritt nach ihrer erfolgreichen Großglockner-Besteigung – «Gratulation!» – die Heimreise an. Ein Wiedersehens-Verabschiedungs-Fest, es wird ordentlich erfrischt, daneben rollt die runde Kugel, jetzt ist auch dieser Zirkus Geschichte!

ps: Morgen gibt es noch eine kurze Zusammenfassung!

Die Hauptstadt, ein Pflegeprogramm und ungewohnte Gehübungen


22. Tag: Montag, 09. Juli

Strecke: Lappeenranta – Helsinki (Zug) (Karte)

Streckenlänge: 223 km (gesamt 1.981 km)

Rechtzeitig zum Hausbau beginnt es zu regnen, außen nass, innen nass, alles nass. Im engen Vorzelt wird noch ein Mitternachts-Nudel-Snack zubereitet. Jetzt nur noch den vergangenen Tag wegschlafen.
Die angekündigte Routenkorrektur: der Weg führt nicht mehr zurück ins Grenzgebiet, der Zug bringt mich in die große Stadt, die Grenzerfahrungen werden nachgeholt. Im Speisewagen verstecke ich mein Rad unterm Tisch, nur Erfrischungsgetränk bekomm ich noch keines, das Gesetz sagt «zu zeitig»! Füße langmachen und deppert aus dem Fenster schaun …
Helsinki hat 1917 Turku als Hauptstadt abgelöst, liegt im Süden des Landes an der Küste des Finnischen Meerbusens, hat weniger als eine Million Einwohner und viel Wasser rundherum. Bis auf den «Umfaller» vom Bahnhof in die Unterkunft wird heute nicht geradelt. Ich werde nach Ankunft sofort aufs Zimmer geschickt: Körperpflege, Handwaschmaschine, Trockenlegung der Ausstattung. Nach so viel Baumbestand und Kontaktarmut bereitet die Großstadt anfänglich Beklemmungen. Verloren unter Menschen, zu groß ist der Kontrast. Nach so viel Treten fühlt sich Gehen an wie eine unbekannte Art der Fortbewegung. Einen Fuß vor den anderen durch das Zentrum, die Klassiker: Kathedrale, Hafen, Meerjungfrau, Marktplatz, … bis die Beine nicht mehr wollen. Heute wird zeitig Schluss gemacht!

Figuren-Yoga, ein harter Werktag und eine Routenkorrektur


21. Tag: Sonntag, 08. Juli

Strecke: Parikkala – Imatra – Nuijamaa – Lappeenranta (Karte)

Streckenlänge: 130 km (gesamt 1.758 km)

Das runde Leder ist den Finn_innen relativ gleich, sie sind schon im Finale – im Karaoke-Gesang und in der Engtanzrunde. Während die WM-Gastgeber zu Hause bleiben, steppt im einzigen Pub von Parikkala der Elch!
Die gestrigen Glücksausschüttungen haben sich inzwischen wieder beruhigt und manche Tage sind einfach «gschissn», so wie heute. Ein harter Werktag «9 am to 10 pm» am Rad. Angefangen hat alles sehr entspannt im Skulpturenpark des künstlerischen Außenseiters Veijo Rönkkönen, seine Lieblings-Motive: Selbstporträts in verschiedensten Yogaverrenkungen. Danach durchs finnisch-russische Grenzgebiet. Mit schweren Beinen geht nix weiter. Imatra hat einen trockenen Wasserfall und eine Rennstrecke, wo Menschen mit Maschinen im Kreis fahren und dabei unnötig jede Menge Gummi und Benzin verbrennen. Von der Rennstrecke führt eine einsame Straße wieder ins Grenzgebiet bis zum Niemandsort Nuijamaa. «Nichts» ist ein Hilfsausdruck! Auch der Reisebuchbegleiter führt immer wieder in die Irre. Neuer Plan, Streckenänderung, weg von der Route, rauf nach Lappeenranta um noch irgendetwas Festes und Flüssiges zu bekommen. Und eines ist auch klar, Elche gibt es in Finnland nur auf Verkehrsschildern, das dafür ganz schön häufig. Lappeenranta am Saimaa-See ist auch kein Bringer, austauschbar, modern, unsympathisch. Heute wird das nichts mehr, jetzt schnell noch einen Schlafplatz finden. Zum Einschlafen noch eine Sigi Maron Textzeile: «Schee is des Lebm, is de Oabeit vuabei!»

Fast Ehrenmitglied, fast Schluss und ein Hoch auf Kesälathi!


20. Tag: Samstag, 07. Juli

Strecke: Kitee – Kesälathi – Parikkala (Karte)

Streckenlänge: 98 km (gesamt 1.628 km)

Im lokalen Pub von Kitee treffen sich alle Altersklassen. Die «Oldies» lauschen dem Alleinunterhalter, der finnische Weisen trällert, die «Youngsters» machen sich selbst den Kasperl, das «Mittelalter» pendelt zwischen den Polen. Eines haben alle gemeinsam, zu fortgeschrittener Stunde, einen ordentlichen Rausch. Anschlussprobleme? Ausgeschlossen! Der ortsansässige Motorrad-Club bestaunt mein analoges Zweirad. Respect! Bevor die Verbrüderung zu eng und mit der Ehren-Clubmitgliedschaft gedroht wird, ziehe ich es vor den Zeltplatz aufzusuchen.
Nächtens sind es nicht die Gelsen die Nerven, sondern winzige Ameisen die herzhaft zubeißen. Trockene Socken bringen gar nichts solange das Schuhwerk noch unter Wasser steht. Nasse Füße stören beim Treten nicht. Strecke/Landschaft? Same, same! Die Rad-Stör-Geräusche werden immer aufdringlicher, ich rede meinem Begleiter gut zu um durchzuhalten und verspreche bei der nächsten Sitzgelegenheit ein Service. Die Probleme liegen außerhalb der Möglichkeiten, sowohl Schaltung als auch Vorderradlager. Während der Radpflege bekomme ich eine unverlangte Bibelstunde eines Reisepredigers. Schnell weiter. Kurz vor Kesälathi ist endgültig Schluss, das Radlager bricht auf. Weiter fahren unmöglich.  Aus! Schieben! Das Glück ist ein Vogerl und setzt sich auf meine Schultern in Form einer Mitfahrgelegenheit. Zwei ältere Damen, ein älterer Herr, ein Zwerg-Collie. Kein Englisch, dafür ein geschulter Blick, «Lagerie»! Nicht nur die Mitfahrgelegenheit, der wissende Fahrer bringt mich auch gleich an die richtige Adresse: Privathaus samt Rad-Heimwerker-König. Improvisation ist alles – Dank an alle guten Geister, Dank an Kesälathi!
Das Brompton schnurrt wieder wie ein Kätzchen. Die letzten knapp 50 Kilometer nach Parikkala muss die Hauptstraße herhalten. Kaputt, dafür glückliches Einrollen in Parikkala, eine Kleinstadt wie viele andere: ein großer Supermarkt ohne Menschen, ein einziges Pub, sonst nix. Aber das genügt, das Leben ist schön, das Leben auf Reisen am Schönsten!