Überlandromantik, Meeresrauschen und die Tristesse der Kleinstädte


4. Tag, Montag 19. September

Strecke: Saka – Purtse – Aseri – Kunda – Rutja

Streckenlänge: 64 km Fahrzeit: 4 h 33 min

Nach zwei Tagen St. Petersburg wirkt so viel Stille fast gespenstisch. Hin und wieder meldet sich eine Möwe, ab und zu ein Schaf, im Hintergrund eine Prise Meeresrauschen, sonst nix. Der Radtag beginnt auf Schotter- und Steinstraßen, der Radweg ist perfekt ausgeschildert und himmelwärts fasziniert die Flugshow der Vögelwanderung Richtung Süden. Über Land ist alles sehr malerisch – viel Gegend – Felder, Mischwälder, kleine Gehöfte. In den Kleinstädten macht die Romantik Pause: Industrieruinen verrotten am Strand, heruntergekommene Schlafstädte im Plattenbaustil, keine Geschäfte, maximal ein Supermarkt. Ein alter Mann kauft sich billigen Fusel im großen Gebinde. Was hat die EU nach Estland gebracht außer Milka-Schokolade?
Die Holperwege münden in ein graues Asphaltband, schnurgerade, Richtung Kunda. Vor Elchen wird gewarnt, gesehen haben wir keinen. Der Gegenwind ist auch mit im Spiel, die ganze Zeit, ein Killer für die Lust am Rad. Auch Labestationen sind spärlich vorhanden, die Est_innen essen und trinken lieber zu Hause. Unsere heutige Bettenstation liegt mitten im Wald, ein Holzhaus im Nirgendwo. Wurst, Brot und Käse haben wir vorsorglich mitgebracht, auch einen Lustigmacher in der Flasche: Auf Estland!

Teller-Kappen, Flussgrenze und endlich Rad


3. Tag, Sonntag 18. September

Strecke: St. Petersburg (RUS) – Narva (EST) per Zug – 175 km, Fahrzeit 3 h 48 min

Strecke: Narva – Narva Jöesuu – Sillamäe – Toila – Valaste – Saka Streckenlänge: 76 km      Fahrzeit: 4 h 30 min

Alles wie im Kino: Bahnhof St. Petersburg 6.00 Uhr in der Früh. Der Zugbegleiter trägt eine übergroße Teller-Kappe am Kopf, ist sehr freundlich, aber lächeln hat er nicht im Programm. Die Pässe werden einkassiert, dafür gibt es Kaffee aus echten Tassen. Das Zugabteil lässt keine Wünsche offen, die Reisegeschwindigkeit sehr wohl. Die Narva trennt die EU von Russland bis hinein in den Finnischen Meerbusen (Ostsee), ab da verschwimmen die Grenzen. Der Grenzübertritt erfolgt über eine Eisenbahnbrücke. Das Wartehäuschen der Bahnhofstation Narva (EST) ist sowohl Pass- als auch Zollamt. Der eigentliche Aufenthaltsraum ist verwaist und erinnert an das „Salzamt“ (wienerisch für: behördliche Entscheidung ohne rechtliche Einspruchsmöglichkeit). Auf der anderen (russischen) Seite liegt Iwangorod, beide Städte haben ihre Festungen und sind durch die „Brücke der Freundschaft“ miteinander verbunden. Sehr viel Konstruktion, sehr viel Metall, sehr viel Zaun.

Ab jetzt wird endlich wieder bromptonisiert. Vom nordöstlichsten Zipfel der Festland-Festung Europa führt der Weg auf mäßig befahrenen Nebenstraßen bis zur Steilküste nach Saka. Rechte Seite Meer. Ein langer Tag, ein üppiges Abendessen inmitten von Stille.