Zerstückelte Stadt, von Glastürmen bis Wohnsilos und der Zug fährt ab


  1. Tag: Samstag, 26. September

Strecke: Warschau – Wien

Streckenlänge: 16 km (Radkilometer/Warschau)

An der Weichsel entlang ins Stadtzentrum. Kaffee trinken, Bahnticket kaufen, Geld wechseln … Warschau kann seine Reize gut verstecken, es zeigt sich eine zerstückelte Stadt. Was auch kein Wunder ist, nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand (1. August bis 2. Oktober 1944) hat die deutsche Besatzungsmacht die Stadt fast vollständig zerstört. Die Altstadt wurde zwischen 1946 und 1953 detailgetreu wiederaufgebaut und 1980 als Weltkulturerbe ausgezeichnet.
Trotzdem sind die Brüche in der Stadt nicht zu übersehen. Im revitalisierten Zentrum tobt der übliche touristische Zirkus, außerhalb streiten sich realsozialistische Bauten mit kapitalistischen Hochhausgiganten um den Platz in der Stadt. Der zukünftige Sieger steht fest. Was noch auffällt, während (zurecht) ein würdiges Monument an den Warschauer Aufstand erinnert, liegt die Erinnerung an, die von den Nationalsozialisten vernichtete jüdische Bevölkerung und das Warschauer Ghetto im Verborgenen. Inmitten von Wohnhausanlagen versteckt, erinnert lediglich ein winziger Rest der einstigen Ghetto-Mauer an die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.
Zwischen Glastürmen und Wohnsilos findet sich dann doch noch eine erdige Kneipe um die Zeit bis zur endgültigen Heimbringung zu vernichten. 18.55, Zug fährt ab!

Erster Rückreisetag, eine Rad-Bahn-Kombi und ein Campingplatz des Grauens


  1. Tag: Freitag, 25. September

Strecke: Białowieża – Hajnówka (Rad) – Warschau (Zug)

Streckenlänge: 30 km (Radkilometer)

Die erste Etappe der Rückreise führt noch einmal ein Stück durch Büffel-Revier, die gewünschte Begegnung bleibt abermals aus. In einem Kaff namens Hajnówka beginnt die Rückführung mit der Eisenbahn. Das Bahnhofsgebäude ist verlassen und trotz allem reizvoll (Bild). Maske auf und durch! Zwei Mal umsteigen und nach vier Stunden Hop-On-Hop-Off – es zieht viel Holz und Landwirtschaftsfläche am Fenster vorbei – rollt der Zug in Warschau Wschodnia ein. Für die restliche Strecke bis zum Mobilheim-Platz wäre die Beschreibung trostlos eine fahrlässige Untertreibung. Der Campingplatz kann es noch besser: eingezwängt zwischen einem Wisła- (Weichsel) Arm und einer Autobahn, ohne Dusche, dafür mit vielen kleinen garstigen Mistviechern. Ein verschärftes Kontrastprogramm zu den Nächten davor. Da hilft nur eines, den heutigen Tag schnell wegschlafen!

Sprechübungen, Achtung Büffel und die Endstation ist erreicht


  1. Tag: Donnerstag, 24. September

Strecke: Stary Dwór – Białowieża

Streckenlänge: 45 km

«Dzień dobry!» Guten Tag, jerde/r wird begrüßt, allein schon, um das Sprechen nicht zu verlernen. Heute wird wieder aufgesessen auf dem Green Velo Radweg. Ein Verkehrsschild warnt vor Büffeln, es geht durch den Białowieża-Nationalpark wo Europas letzte wilde Wisente leben. Dummer Weise sind die bulligen Viecher sehr scheu und so bietet ein Besuch im Białowieża-Reservat die einzige Möglichkeit so ein Exemplar vor die Linse zu bekommen. Neben den grasenden Riesen beherbergt das Freiluft-Gehege auch brunftige Hirsche, schlafende Luchse, gleichgültige Elche und faule Wildschweine, einzig die Wölfe verstecken sich. Trotzdem, eingezäunte Wildtiere sind das halbe Vergnügen. In Białowieża hat sich eine Art zarter Büffeltourismus etabliert und die weißrussische Grenze ist zum Greifen nahe. Einmal schnell zur Grenze gefahren – tote Hose – die elektrischen Balken sind geschlossen und auch sonst rührt sich nichts.
Białowieża war die letzte geplante Station der Reise, Kopf und Körper sind erschöpft, das Herz traurig, ab morgen beginnt der Weg zurück in das, was «normales Leben» heißt.

Ein Tag der Arbeit, eine Fleißaufgabe und einer nach dem anderen


  1. Tag: Mittwoch, 23. September

Strecke: Ełk – Białystok (Zug) – Michałowo – Stary Dwór

Streckenlänge: 73 km (Radkilometer)

Punkt sechs Uhr, raus aus dem wärmenden Schlafsack! Heute wird eine Teilstrecke per Zugfahrt überbrückt. Wieder in Richtung Osten, wieder nach Białystok, ein Umsteigebahnhof auf der Anreise. Ähnlich wie Ełk kann auch Białystok überraschen, fern ab von Tourismus-Pfaden präsentiert sich eine lebendige Stadt.
Den Masuren wird der Rücken gekehrt und es führt der Weg zurück in die Woiwodschaft Podlachien. Der Unterschied? Statt roten Backsteinbauten beherrscht, ähnlich wie in den baltischen Ländern, die niedrige Holzbauweise das Landschaftsbild. Heute ist kein Tag für Schöngeister, heute ist ein Tag der Arbeit. Ein Zubringertag. Dafür vom Start bis zum Ziel fast ausnahmslos auf Asphalt. Die einzige Aufregung breitet wieder einmal die Kulinarik. Das Camping-Wirtshaus ist bereits auf Winterpause und der nächste Sklep (Gemischtwarenhandlung) sechs Kilometer in Herkunftsrichtung entfernt, wir hatten bereits das Vergnügen. Eine tour-retour zwölf Kilometer lange Fleißaufgabe zur Verbesserung der Tagesleistung. Ein Detail am Rande, die streng nach Corona-Regelung amtierende Besitzerin lässt pro Geschäftsanbahnung nur eine Kundschaft in ihr Reich: Bitte warten, einer nach dem anderen!
Das Mobilheim steht übrigens wieder an einem Gewässer (Stausee Siemianówka), aber das ist inzwischen auch nichts mehr Neues.

Schriller die Glocken nie klingen, Alltagsgeschichten und Ełk sei Dank!


  1. Tag: Dienstag, 22. September

Strecke: Wiartel – Pisz – Ełk

Streckenlänge: 63 km

Ein bisserl die Wildtiere aus dem Wald, zwischendurch die Enten, manchmal springt ein Fisch, aus der Entfernung bellen Hunde, aber mit Abstand den meisten Lärm verursacht die katholische Kirche mit ihrem unerbittlichen Glockengebimmel. Ansonsten: vorgestern war ähnlich, gestern war gleich, insofern nichts Neues im Osten – darum zum Alltäglichem:

Sprache:
Buchstaben mit Strichen oben und unterhalb, eine Herausforderung für die Wiener Zunge. Sich Ortschaften merken – Fehlanzeige! Nur die Grundfloskeln haben sich eingebrannt: Guten Tag. Auf Wiedersehen. Bitte. Danke. Ein Erfrischungsgetränk!

Essen:
Ein Highlight sind die polnischen Suppen: Żurek (Sauermehlsuppe),
Barszcz (Rote Rübensuppe), Flaki (Kuttelsuppe), … Nur ist die Nahrungsaufnahme ist immer ein Lotteriespiel, Wirtshäuser sind spärlich gesetzt. Der letzte Ausweg ist der Sklep.

Sklep:
Gemischtwarengeschäft für den wichtigsten, täglichen Bedarf: Häuselpapier, Grundnahrungsprodukte, Erfrischungsgetränke. Nicht jede Ortschaft hat einen.

Städte:
Die norostpolnischen (Klein-)Städte geizen mit ihren Reizen, wo der Tourismus aufhört, fängt das Elend an. Um auch etwas Positives zu vermelden, auf den Hauptdurchzugsstraßen ist Radfahren verboten, dafür gibt es alternativ sehr großzügig angelegte Radwege.

Ortschaften:
Nicht immer sind alle Straßen asphaltiert, Hunde sind angeleint, das Eigenheim alarmgesichert und nur jede fünfte Ortschaft verfügt über einen Sklep.

Vögel:
Wie die meisten Touristen haben auch die Störche das Land bereits verlassen, verwaiste Behausungen überall.

Der Tagesabschluss hat noch eine Überraschung parat – Ełk! Ełk liegt abseits der masurischen Seenwelten, Ełk hat seien eigenen See und Ełk ist eine Stadt für die Menschen, die hier leben und nicht nur für Besucher_innen. Kinder spielen auf Spielplätzen, Liebespaare turteln auf der Seepromenade, es gibt ausreichend Lokale und einen wunderbaren Campingplatz. Alle Strapazen des Tages rücken – Ełk sei Dank! – in den Hintergrund.

Langer Tag, kurzer Blog


  1. Tag: Montag, 21. September

Strecke: Rydzewo – Mikołajki – Ruciane Nida – Karwica – Wiartel

Streckenlänge: 85 km

Die Tage wiederholen sich, alle Bilder waren irgendwann schon einmal gesehen. Das Vorhaben heute nur Asphaltwege zu befahren war nicht durchzuhalten – unterm Strich halbe-halbe – das Stimmungsbarometer war auch schon einmal in anderen Sphären. Das Mobilheim steht wieder einmal solo am Platz, die Beine sind müde, die Birne auch. Langer Tag, kurzer Eintrag, gute Nacht.

Eine graue Decke, eine Schifferlfahrt und eine ungeplante Tortur am Tag des Herrn


  1. Tag: Sonntag, 20. September

Strecke: Rydzewo – Mikołajki – Rydzewo

Streckenlänge: 36 km

Weitblick ade, der See versteckt sich unter einer dichten hellgrauen Decke. Das Mobilhaus bleibt heute auf seinem Platz, Rad und Fahrer besteigen ein Ausflugsschiff in Richtung Mikołajki, im Rückblick ein Fehler: Schifferlfahrten über zwei Stunden haben etwas Grausames an sich, vor allem bei Temperaturen um die zehn Grad und das in kurzer Hose. In einem der Kanäle wettstreiten Angler_innen im Rahmen einer Competition um den fettesten Fisch.
Das ehemalige Fischerdorf Mikołajki hat sich zu einem Zentrum entwickelt und ist auf Tourismus gebürstet: Hotelanlagen, Hafenpromenade, Souvenir-Kitsch, Ess- und Trinkmeile. Inzwischen hat sich die Wolkendecke gelüftet und die Temperaturen klettern in den Wohlfühlbereich. Trotzdem hält sich das Bedürfnis zu verweilen in Grenzen. Gemütlich auf zwei Rädern und auf Nebenrouten wird die Spur aufgenommen zurück zum Mobilheim. Mr. Google berechnet für seinen Routenvorschlag knappe eineinhalb Stunden. Eine Spazierfahrt. Es kommt anders, kurz nach der Stadtausfahrt endet der Asphalt, es beginnt eine Tortur auf größtenteils Sandstraßen unterbrochen von Abschnitten ausgelegt mit dem gefürchteten Kopfsteinpflaster aus Vorkriegszeiten. Durch Wälder und Prärie, ohne Menschen, ohne Tränke verschlingt die vermeintliche Sonntagsausfahrt ganze drei schweißtreibende Stunden bis zum besten Bier der Welt. Morgen wird auf Romantik gepfiffen und auf asphaltierte Hauptrouten vertraut!

Quasi Quarantäne, von See zu See und ein lebendiges Dorf


  1. Tag: Samstag, 19. September

Strecke: Węgorzewo – Giżycko – Rydzewo

Streckenlänge: 42 km

Die Tage wiederholen sich, Instant-Kaffee vom Gaskocher am menschenleeren Campingplatz. Einzig ein Arbeiter hat sich der Aufgabe gestellt eine Blechhütte mit frischer Farbe zu versehen. Leiter gibt es keine und um die höheren Lagen zu erreichen wird gestapelt – ein Podest, darauf ein wackeliger Sessel – sehr kriminell! Bis zur Abreise ist nichts passiert …
Auch im Kerngebiet der Masurischen Seenplatte bewegen sich nur wenige Menschen. Herbst? Corona? Auf welcher Farbe die Corona-Ampel auch stehen mag – wurscht! – auf Nord-Polen-Reise gibt es so gut wie keine Kontakte. Quasi Quarantäne.
Ein See folgt dem nächsten. Gefahren wird auf Asphalt, Sandwegen und Kopfsteinpflaster. Bei den Sandwegen ist Gefühl gefragt, sonst vergraben sich die Reifen, ein Geduldspiel. Auch das grobe Kopfsteinpflaster bringt keinen Frohsinn, großteils stammt es aus Zeiten vor dem letzten großen Krieg, als die Masuren noch ein Teil Deutschlands waren. Giżycko ist eines der Zentren zwischen den vielen Seen und es gilt selbiges wie für alle bisherigen Kleinstädte – schnell wieder raus aus der Stadt und rein in’s Land. Die heutige Endstation ist anders: Ein See (Boczne See), ein kleines Nest entlang einer Nebenstraße, ein Campingplatz mit Besucher_innen. Darüber hinaus vier geöffnete Gaststätten, eine davon mit Live-Musik unter freien Himmel. Nix mehr Isolation, trotzdem bleibt alles im „Grünen Bereich“!

Der Green Velo, eine Überdosis Landschaft und ein realsozialistischer Campingplatz


  1. Tag: Freitag, 18. September

Strecke: Gołdap – Bani Mazurskie – Węgorzewo

Streckenlänge: 64 km

Der Gołdap-See, der bis über die Grenze nach Russland reicht, liegt ausgebreitet wie eine Decke vor einem völlig ausgestorbenen Campingparadies. Im Wasser baden Wildenten in der Morgensonne.
Schon seit Beginn der Reise kreuzt immer wieder der Green-Velo-Radweg die eingeschlagene Spur, so auch in Gołdap. Diesmal wird das Angebot angenommen. Der «Green Velo» (https://greenvelo.pl) führt über 1885 Kilometer von Elbląg im Nordwesten an der Ostsee bis knapp an die slowakische Grenze im Südosten des Landes. Immer entlang der Grenze und perfekt ausgeschildert! Somit verlegt sich die heutige Etappe vom Asphalt der Landstraßen auf Schotter- und Wald-Straßen durch eine Überdosis an Landschaft. Dörfer müssen durch Abweichungen von der Route extra angefahren werden. Einmal abgebogen vom grünen Band, rollen die Räder samt gut durchgeschütteltem Fahrer in Węgorzewo ein. Wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt Camping Rusałka direkt am Święcajty-See. Der Campingplatz war Schauplatz in einem Arno Surminski Roman, «Polninken», einer tragischen Liebesgeschichte zwischen Ost- und West-Deutschland – Empfehlung! Teilweise präsentiert sich Rusałka wie anno dazumal in realsozialistischen Zeiten.
Schluss jetzt, es ist höchste Zeit: Körper- und Wäsche-Pflege sind dringend notwendig.

Starke Winde, ein Dreiländereck und Launen des Lebens


  1. Tag: Donnerstag, 17. September

Strecke: Wiżajny – Gołdap

Streckenlänge: 50 km

In der Nacht tobt ein Sturm und dicke Regentropfen klopfen auf das Dach. Das Mobilhaus steht wie angewachsen. Schlechtwettertest bestanden. Zum Abschied gibt es ein Gastgeschenk der Vermieterin in Form von lokalem Käse!
Heute verbindet Start und Ziel nur eine einzige Landstraße. Der Regen hat sich verzogen, der stürmische Wind ist geblieben. Nach wenigen Kilometern ist das Dreiländereck zwischen Polen, der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen erreicht. Ein Obilisk, Warn-/Hinweis-Tafeln, ein Zaun – ein Schnappschuss und zurück auf die Piste. Die Woiwodschaft Podlachien geht in die Woiwodschaft Ermland-Masuren über, landschaftlich ändert sich nichts. Es geht entlang der Rominter Heide, ein ausgedehntes Waldgebiet zwischen Polen und Russland ausgestattet mit einer artenreichen Fauna. Für die Elche, Hirsche, Wölfe und Luchse, die da wohnen, fallen Grenzkontrollen aus. Das Wetter kann sich heute nicht entscheiden – Sonne, Wolken, Regentropfen wechseln sich ab, nur der Gegenwind bleibt standhaft. Es gibt Tage, die sind gut, welche, die sind besser und solche, die man gar nicht braucht. Ähnlich verhält es sich mit der Einsamkeit, die ist manchmal sehr „leiwand“, oft aber auch sehr „g’schissn“! So verlangt es das Leben und es passt auch so. Fest treten hilft den Kopf wieder gerade zu richten …
Themenwechsel. Das Problem mit der Nahrungsaufnahme bleibt aufrecht. Gehen die Pol_innen nur in die Kirche und nicht ins Wirtshaus? Ein Land von Selbstversorger_innen? Beginnt der Winterschlaf bereits Mitte September? Auch der Campingplatz am Gołdap-See ist dicht verrammelt, natürlich auch die Sanitäranlagen – muss eben die Natur herhalten. Das Mobilheim wird trotzdem aufgebaut. Und überhaupt, ein gutes Flascherl in Rot wirkt Wunder!